stay curious
Gedanken zur aktuellen Flüchtlingsthematik und was sie mit Do-It-Yourself- und Maker-Kultur verbindet
Menschen, die nichts anderes wollen, als ihre Identität und ihre Individualität zurückzugewinnen!
Der zitierte Satz stammt aus einem Interview, welches Ende 2015 die österreichische Kleine Zeitung mit dem UN-Krisenhelfer Kilian Kleinschmidt führte. Anlass war die Veröffentlichung seines Buches „Weil es um die Menschen geht“. Kleinschmidt war weltweit an zahlreichen Brennpunkten tätig, darunter auch im größten syrischen Flüchtlingslager Zaatari. Im Interview berichtet er über seine Arbeit in den Flüchtlingslagern und vermittelt dabei Eindrücke, in die man sich aus der Perspektive unserer westlichen Zivilgesellschaft nur schwer hineinzudenken vermag und die zum Teil verstörend wirken. Kleinschmidt skizziert neue Ansätze in der Flüchtlingshilfe. In einem seiner Projekte entsteht derzeit ein FabLab.
In seinen Ausführungen beschreibt er auf berührende Weise, weshalb Menschen, die alles verloren haben, es langfristig als entwürdigend empfinden, Hilfeleistungen lediglich nach vorgegebenen Normen entgegennehmen zu müssen. Auch dann, wenn geltende Standards der Grundversorgung hergestellt und somit Sicherheit und Überleben gewährleistet sind, kämpfen Menschen unmittelbar dafür, Dinge selbst gestalten zu können. Kleinschmidt macht deutlich, weshalb es immens wichtig ist, Menschen, die ihre Häuser, ihre Besitztümer, ihre Arbeit und ihr soziales Umfeld hinter sich lassen mussten, Freiräume für das Ausleben von Individualität zu verschaffen, und dass ein Mangel hieran sogar Basis für Aggression und Revolte sein kann. So beschreibt er anschaulich, mit wie viel Energie und Kreativität die Bewohner der Lager ungeliebte Dinge, wie z.B. Gemeinschaftsduschen, durch eigene Konstruktionen ersetzen, wie Einfluss auf Gestaltung und Positionierung der Unterkünfte genommen wird und Dinge des täglichen Lebens, allen Widerständen zum Trotz, nach eigener Fasson gestaltet werden.
Recht auf Individualität, um sich selbst wieder als `Ich´ und als Mensch begreifen zu können Kilian Kleinschmidt
In einem Flüchtlingslager geht der Wunsch, Dinge selbst in die Hand nehmen zu können, einher mit der Rückgewinnung von Individualität und Identität. Kleinschmidt spricht vor diesem Hintergrund sogar von einem Recht auf Individualität und dass es für Menschen in Krisen nichts Wichtigeres gibt, um sich selbst wieder als `Ich´ und als Mensch begreifen zu können. Der Freiraum dafür, Dinge selbst machen zu können, hat in diesem Zusammenhang mit nichts Geringerem zu tun, als der Wiederherstellung menschlicher Würde.
Kleinschmidt wirbt für neue Wege in der Flüchtlingshilfe, in der, nach seiner Einschätzung, der Transfer von Know-how eine wichtige Rolle spielt, nicht zuletzt deshalb, um unnötigen Abhängigkeiten der Menschen entgegenwirken zu können. Ebenso wirbt er für dezentrale Strukturen und für zeitgemäße Formen der Vernetzung. In diesem Kontext erwähnt Kleinschmidt, dass in einem seiner Projekte ein FabLab entsteht und stellt klar, dass die Menschen in den Lagern selbstverständlich „Kids des 21. Jahrhunderts“ sind und den Herausforderungen unserer Zeit mit großer Neugier und Können begegnen.
Auch wenn dies im Interview nicht explizit benannt wird, liegt, wie ich finde, auf der Hand, wie hoch allein der praktische Nutzen eines solchen Labs in einem Flüchtlingslager ist, da viele dringend benötigte Dinge selbst hergestellt werden können. Entsprechend ausgestattet, können beispielsweise Prothesen hergestellt werden, welche bei Kindern, aufgrund des Wachstums, immer wieder neu angepasst werden müssen. Die global vernetzte Struktur der FabLab-Community verschafft zudem Partizipationsmöglichkeiten am Wissensaustausch. Ein Grund jedoch, an den ich selbst bisher nicht gedacht habe und der für mein Empfinden einen ganz besonderen Blick auf die Struktur eines FabLabs eröffnet, entsteht durch das von Kleinschmidt beschriebene besondere Bedürfnis danach, Dinge selbst in die Hand nehmen zu wollen und der von ihm beschriebenen Notwendigkeit von Freiräumen dafür. Ich denke, das „How to make almost anything“ der FabLab-Welt erhält vor dem Hintergrund dieser brennenden Sehnsucht nach Individualität, eine besondere Bedeutung, die weit über das bloße Herstellen von Dingen hinausgeht.
Als naheliegend empfinde ich die Frage, welche Freiräume Menschen mit Fluchterfahrung eigentlich zur Verfügung stehen, wenn diese zu uns kommen, und ob FabLabs nicht auch bei der Integration von Menschen, bzw. den von Kleinschmidt genannten „Kids des 21. JH.“, einen wertvollen Beitrag leisten können. Denn FabLabs verfügen über eine Fülle von Eigenschaften, die in diesem Zusammenhang hilfreich sein könnten! So sind es nicht nur Orte, in die unterschiedlichste Menschen mit ihren individuellen Ideen kommen, um diese in greifbare Produkte zu transferieren, sondern es treffen in den Labs Menschen zusammen, die sich in ihren persönlichen, beruflichen und kulturellen Verschiedenheiten kennen lernen. Und zumeist dann, so zeigt es die Geschichte der FabLabs, wenn diese nicht einfach nur nebeneinander her, sondern gezielt miteinander arbeiten und Verschiedenheit dabei als Ressource verstanden wird, werden aus den Laboren äusserst innovative Umfelder (!) Multidisziplinär sind die Labs seit ihrer Geburtsstunde und als Fragment einer weltweiten Community ist jedes einzelne per se auch als ein multikultureller Ort zu verstehen. FabLabs sind auf spannende Weise paradox, stehen sie doch gleichermaßen für globales Networking als auch für konkretes Hands-on vor Ort. Ich denke, dass die Herausforderung, die es jetzt anzunehmen gilt, darin besteht, dass sich das, was in den globalen Netzwerken, ohne darüber nachzudenken, praktiziert wird -nämlich multikulturelles Miteinander- nun verstärkt im Hier und Jetzt und in unmittelbarer Zusammenarbeit abbilden muss.
Mit den Flüchtlingen kommen Menschen zu uns, die nach vorn schauen. Wir haben allen Grund dafür, auf sie und ihre Ideen neugierig zu sein, denn in der konkreten Zusammenarbeit steckt eine Innovationskraft, von der alle profitieren! Eine Gesellschaft, die, wie die unsere, in hohem Maße von Innovation lebt, kann die gegenwärtige Situation eigentlich nur als Herausforderung annehmen und sollte die damit verbundenen Veränderungen als Chance verstehen.
Bei allem Optimismus sollten wir trotzdem nicht naiv sein. Die anstehenden Veränderungen werden nicht frei von Konflikten sein, sondern erfordern Anstrengungen von beiden Seiten. Nicht für alle offenen Fragen stehen Antworten parat und nicht für jede Herausforderung ist ein Masterplan vorhanden. Die genannte Zusammenarbeit will gelernt und erforscht werden. Es braucht Futurelabs, auch in diesem Sinne! Und wichtiger als alles andere: es braucht Leute, die in der Lage sind, über den Tellerrand zu schauen, es braucht Macherinnen und Macher mit Mut zum Experiment!
Den Austausch von Wissen und Inspiration, wie er nicht nur in der FabLab-Community, sondern ganz allgemein in der Maker-Szene stattfindet, halte ich für die Unterstützung von Integration von erheblichem Wert! Was uns verbindet ist die gemeinsame Neugier auf faszinierende Technologie und ein neues Zeitalter. Was wir jetzt mehr denn je brauchen, ist eine Kultur wechselseitiger Neugier aufeinander. Stay Curious!
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